Soviel du brauchst
31. Januar 2012
Langsamer Dauerlauf
12 km, 1:05 h
Das heute veröffentlichte Motto für den nächsten Evangelischen Kirchentag im Mai 2013 in Hamburg schlägt für mich einen wunderbaren Bogen um den Kern jüdisch-christlicher Religiosität: von dem
Manna-Wunder in der Moses-Geschichte, auf die sich das Zitat stützt (Ex 16), über das Vaterunser („Unser täglich Brot gib
uns heute“) bis zum Credo Dietrich Bonhoeffers von 1943: Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft gibt, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns
nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.
In „soviel du brauchst“ verbindet sich eine große Forderung – die ehrliche Einschätzung unseres wahren Bedarfs – mit einem großen Versprechen, das Jesus in der Bergpredigt so formuliert: Sorget Euch
nicht um den morgigen Tag (Mt 6,34). Mehr kann man sich eigentlich nicht wünschen. Und trotzdem ist die Bedingung für
dieses Versprechen so unendlich schwer zu erfüllen. Schon die Israeliten scheiterten beim Manna-Sammeln an der Limitierung auf die täglichen Ration – und wunderten sich am nächsten Morgen über das
faulige, von Würmern zerfressene Manna. Je mehr sich die Menschen im Bonhoeffer‘schen Sinn auf sich selbst verlassen wollten, umso mehr entfernten sie sich vom täglichen Bedarf. Die heutigen auf
Überfluss, Konsum und Wegwerfen basierenden Erste-Welt-Gesellschaften sind die vorläufige Spitze dieser Entwicklung.
Die Selbstbescheidung ist nicht die einzige Hürde, die mit dem Versprechen verbunden ist. Es will auch geglaubt werden. Und glauben bedeutet, eine paradoxe Doppelbewegung zu vollziehen: den Verstand
im Vertrauen auf Gott aufzugeben und doch hoffnungsvoll ins Irdische zurückzukehren. Die Fülle des Lebens als Geschenk Gottes zu genießen, das ist für mich die Botschaft von „soviel du brauchst“. Der
Autor des Johannes-Evangeliums muss das ähnlich gesehen haben: Er lässt Jesu Wirken beginnen mit der Weinwandlung bei der Hochzeit von Kana (Joh 2) und schließt mit dem Fischzug auf dem See Tiberias, bei dem 153 Fische ins Netz gehen (Joh
21).
Warum 153? Weil es die Summe aus den Zahlen 1 bis 17 ist (1+2+ … +17 = 153) und die 17 für die Zehn Gebote und die sieben Gaben des Heiligen Geistes steht. Möge er in Hamburg reichlich wehen.
Wulff, Schettino und die
Schächer am Kreuz
25. Januar 2012
Ruhiger Dauerlauf
11 km, 55 min
Es gehört zum Kern des Christentums, dass einer dem anderen vergibt – wie groß die Schuld aus sein mag. Doch die Vergebung gibt es nicht umsonst. Keine biblische Geschichte drückt das besser aus als die lukanische Erzählung von den beiden Räubern am Kreuz, die auf Golgota Jesus flankieren (Lukas 23,39-43). Während der eine sich nicht zu seiner Schuld äußert und stattdessen in den Chor der Spötter über Jesus einstimmt, zeigt der andere Reue: Er erkennt vollumfänglich seine Schuld an. Dafür wird er gleich zweifach belohnt: erstens durch die Einsicht, dass es Schlimmeres gibt, als schuldig am Kreuz zu hängen – nämlich unschuldig am Kreuz zu hängen. Und zweitens durch Jesu Verheißung eines ewigen Lebens.
Die in der Überschrift Genannten haben sich dieses Vorbild leider nicht zu eigen gemacht. Trotz klarer Faktenlage folgen sie – bei aller unterschiedlichen Schwere ihrer Vergehen – der gleichen feigen
Verteidigungslinie: hier ein bisschen Schuld zugeben, ohne im Mindesten Reue zu zeigen, dort auf andere verweisen und vor allem über das eigene Leid klagen.
Geben Sie zu, Herr Schettino, dass ein Kapitän die alleinige Verantwortung für den Kurs des Schiffes und im Falle einer Havarie für die Evakuierung hat. Geben Sie zu, Herr Wulff, dass Sie dem
Parlament kein vollständiges Zeugnis abgelegt haben, dass Sie die im Grundgesetz verankerte Pressefreiheit nicht so verinnertlicht haben, wie man das von einem Präsidenten erwartet, dass Sie
Verantwortung für Personen tragen, gegen die schwer wiegende Vorwürfe erhoben werden. Sie behaupten von sich, Sie seien Christ. Folgen Sie dem Beispiel des größten Bußpredigers im Neuen Testament.
Bekennen Sie Ihr Versagen und treten Sie ab. Sie verlieren ein Amt, aber Sie gewinnen Größe.
Von Ende Oktober 2011 bis Ende Januar 2012 machte
der spirituelle Laufblog Pause.
Ein Jubeljahr!
16. Oktober 2011
Bad Hindelang
Langsamer Dauerlauf
7 km, 40 min
Angesichts der umfassenden Allianz gegen die Banken, die sich in den letzten Wochen gebildet hat, ist man geradezu versucht, die Bösewichte in Schutz zu nehmen. Mich erinnert die Frontenbildung an die im Johannes-Evangelium berichtete Szene von der so genannten „Ehebrecherin“, die Jesus im letzten Moment mit dem Satz vor dem Lynchmob rettete: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Johannes 8,7). Wie damals die „Ehebrecherin“ deshalb zu einer solchen wurde, weil sie von den Männern dazu missbraucht wurde, so ist heute das angeprangerte Geschäftsgebaren der Banken auch nur das Resultat ihrer Kundenwünsche. Und so wie damals das schlechte Gewissen der Männer sich in der „Ehebrecherin“ entäußerte und personalisierte, so werfen wir heute den Banken all das vor, was wir an uns selbst hassen: Gier, Gewinnstreben, Geldsucht.
Die Anti-Banken-Allianz umfasst den Studenten, der selbstverständlich eine kostenlose Girokontoführung erwartet, den Kleinsparer, der für ein Zehntel Prozent mehr seine Tagesgeldeinlagen umschichtet, den Häuslebauer, der länger nach der günstigsten Hypothek sucht als nach einer passenden Immobilie, den Wohlsituierten, der sein Geld deutlich rentabler als einen Bundesschatzbrief, aber bitte genauso risikolos angelegt haben will, und natürlich die Politiker, die uns erst gezeigt haben, wie unbeschwert man mit einem Riesenberg von Schulden leben kann. Sie alle sammeln nun Steine gegen die, deren unternehmerisches Ziel die Erfüllung genau dieser Wünsche ist. Und das sind ja nicht nur die bösen Bosse und die kalten Profi-Spekulanten, sondern das ist vor allem ein Heer von Bankangestellten, deren Familienunterhalt oft bis zu 80 Prozent von variablen, erfolgsabhängigen Vergütungen bestritten werden muss.
Seid doch alle ein wenig gelassener im Umgang mit Geld! Wie so oft in alltäglichen Dingen können wir auch hier aus dem Neuen Testament lernen. Jesus ging bewundernswert locker mit Geld um. Er lebte zwar selbst in Armut und empfahl dies auch seinen Jüngern. Aber er scheute den Umgang mit Reichen keineswegs. Er kehrte ohne Zögern bei ihnen ein und ließ sich sein verdienstfreies Dasein als Wanderprediger von reichen Jüngerinnen finanzieren (vgl. Lukas 8,2f.). In seinen Gleichnissen lobt er tüchtige Geschäftsleute (Matthäus 25,14-30 bzw. Lukas 19,12-27) und sogar dem Gebaren eines Finanzbetrügers kann er noch den positiven Aspekt der Geistesgegenwart abgewinnen (Lukas 16,1-13).
Aufschlussreich ist die Szene mit dem „reichen Jüngling“, von der Markus (10,17-22) berichtet: Als ein wohlhabender junger Mann ihn fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, sagt Jesus ihm: Halte die Gebote. Erst als dieser erneut nachfragt, was er denn darüber hinaus noch tun könne, empfiehlt ihm Jesus: „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ Sein Reichtum war also kein Hindernis für das ewige Leben. Aber eine noch engere Verbindung zu Gott setzt voraus, dass man sich gedanklich vollständig von materiellen Dingen trennt – ganz nach dem Motto: „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Matthäus 6,21). Wer im Gelderwerb, Geldbesitz und in der Geldvermehrung sein beherrschendes Lebensziel sieht, der ist davon ganz weit entfernt. Darum geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes (Markus 10, 25).
Was könnten wir aus der jesuanischen Lockerheit im Umgang mit Geld für die heutigen Probleme lernen? Lasst uns ein Jubeljahr im Sinn der Tora ausrufen – ein Jahr des Schuldenerlasses und der Befreiung. Ein Jahr, in dem die Eurostaaten sich untereinander die Schulden erlassen. Die dann zu rettenden Banken lasst uns mit dem Geld finanzieren, das ansonsten an Einkommensteuerzahler als Rückerstattung ausgezahlt würde. Das ist meistens sowieso hingetrickst und gelogen. Lasst uns einen Fond einrichten für Familien, die ihren laufenden Lebensunterhalt nicht ohne Schulden begleichen können, finanziert von dem Familien, die am Ende des Monats normalerweise ihre Spareinlagen aufstocken. Nur für ein Jahr: Jubeln statt verjubeln.
iGod ist tot
6. Oktober 2011
Hamburg-Volkspark
Zügiger Dauerlauf
10 km, 45 min
Im Mai sorgte eine Untersuchung von britischen Neurowissenschaftlern für Aufsehen, in der mithilfe eines MRT gezeigt werden konnte, dass der Anblick von Apple-Produkten bei Fans dieser Marke die gleichen Gehirnregionen stimuliert, die üblicherweise bei spirituellen Erlebnissen angeregt werden.
Das war gewissermaßen die empirische Unterfütterung für die vielen religiösen Wortspiele rund um die Kultmarke aus dem kalifornischen Cupertino: Man redete von „Apple-Jüngern“, die einem „iGod“ und seinen „Produkt-Offenbarungen“ huldigen.
Seit gestern ist iGod tot. Wird er in den Götterhimmel der Religionsstifter aufgenommen? Viel spricht für ihn. Er hat es geschafft, aus einer zunächst nur kleinen Gefolgschaft eine große, weltweite Gemeinde zu formen. Er hatte eine Botschaft, die das Denken auf den Kopf stellte, weil er beim Menschen und seinem intuitiven Verständnis ansetzte und nicht beim Experten und seinen Visionen von technischer Machbarkeit. Er hat mit seiner berühmten Stanford-Rede quasi eine Bergpredigt voller inspirierender und elementarer, aber nicht simplifizierender Weisheiten hinterlassen. Er hat Menschen über alle Alters- und Nationalitätsschranken hinweg verbunden. Er hat das Leid der Mehrheit der Menschen in Freude verwandelt, jedenfalls im Umgang mit Computern und Handys. Er hat in den großen Städten der Welt Glaskuppen geschaffen, zu denen seine Anhänger gerne pilgern.
Und doch müssen wir keine drei Tage warten, um zu wissen: Steve Jobs schuf ein historisches Phänomen, ein außerordentliches zwar, aber ein bereits jetzt bröckelndes, wie man am Aktienkurs von Apple ablesen kann. Da mag auch die Enttäuschung über das neue iPhone 4S eine Rolle spielen, das, merkwürdiger Zufall, ein Tag zuvor von seinen Nachfolger vorgestellt wurde.
Das Gedankenspiel mag trivial erscheinen. Aber es erinnert uns an den wesentlichen Grundstein des Christentums, der so leicht verschüttet wird: Jesus Christus war kein historisch fassbares Phänomen. Selbst wenn wir einen exakten Augenzeugenbericht seines kompletten Lebens lesen könnten, wäre unserem Glauben nicht geholfen. Wir als Christen müssen dieses Paradox denken lernen: dass wir in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte Gleichzeitige mit Christus sind.
... und Gott über alles?
30. September 2011
St. Peter-Ording
Ruhiger Dauerlauf
14 km, 1:05 h
Der Fall Mirko geht mir nicht aus dem Kopf. Die Berichterstattung über das Urteil am vergangenen Mittwoch – lebenslang für den Mörder Olaf H. – spülte nochmals alle bekannt gewordenen Details hoch. Jede Mutter, jeden Vater muss die Vorstellung zur Verzweiflung treiben, dem eigenen Kind könnte Ähnliches geschehen. Ich bewundere die Eltern von Mirko, Mitglieder einer freikirchlichen Christengemeinde, die aus ihrem Glauben die Kraft schöpfen, dem Täter nicht das Allerschlimmste zu wünschen und noch nicht einmal Hass zu zeigen, jedenfalls nicht öffentlich. Was für eine Demonstration christlicher Glaubenskraft!
Die Liebe zum eigenen Kind ist die größte, die heftigste, die nachhaltigste Emotion, die wir als Menschen erfahren dürfen. Wenn der christliche Gott von uns verlangt, dass wir ihn über alles lieben, dann ist die größte denkbare Prüfung, vor die uns Gott stellen kann, folgerichtig die Alternative: „Dein Kind oder ich?“
Wer denkt, dass der christliche Gott so grausam nie sein könnte, hat die Wurzeln seines Glaubens nicht verstanden. Die Geschichte des Gottesvolkes beginnt genau mit dieser Frage. Der erste der biblischen Erzväter, Abraham, erhält von Gott den Befehl: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde“ (Genesis 22, 2). Die folgenden Verse lassen den dramatischen Kampf erahnen, den Abraham durchlitt: Er brach früh am Morgen mit Isaak und zwei Knechten auf, um sich von niemandem verabschieden zu müssen, drei Tage zogen sie durch die Wüste, in denen er kein Wort sprach und erst vom Boden aufblickte, als sie in der Nähe des Berges waren.
Die Qualen des Abraham inspirierten den großen dänischen Theologen, Dichter und Philosophen Sören Aaby Kierkegaard zu seinem Werk „Furcht und Zittern“, das nicht nur er selbst für sein bestes hielt. Abraham gilt ihm als der große, unerreichte Held aller Christen, der die paradoxe Doppelbewegung des Glaubens deutlich macht: erst die unendliche Resignation, die allem Glauben vorangeht, dann die Bereitschaft zum Opfer in der Gewissheit, Gott wird es schon richtig machen. „Wer Gott liebt“, sagt Kierkegaard, „vergisst das Leiden in der Liebe.“
So weit bin ich nicht – und ich weiß auch gar nicht, ob ich so weit kommen möchte. Da bete ich lieber täglich das Vaterunser, „führe mich nicht in Versuchung“, damit dieser Kelch an mir vorübergehe: „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm …“ – siehe oben (Genesis 22,1).
Glaube macht schnell
25. September 2011
Hamburg-Othmarschen
Langsamer Dauerlauf
11 km, 55 min
Nachdem Patrick Makau heute in Weltrekordzeit über die Zielmatten des Berlin-Marathons gelaufen war, bekreuzigte er sich – und zeigte mit dieser Geste, dass er die zurückliegenden 42,195 Kilometer mit einer Begleitung gelaufen war, die stärker wirkt als jeder Pacer und jeder Konkurrent.
Was ist der Unterschied zwischen einem Marathonläufer, der an Gott glaubt, und einem anderen, genauso gut trainierten, der nicht an Gott glaubt? Körperlich keiner. Beide haben das gleiche Leistungsvermögen – und Gott kennt keine Günstlinge. Aber Marathon als die längste und härteste leichathletische Disziplin ist nur zur Hälfte eine Funktion des Körpers. Die Leiden eines Menschen, der über zwei Stunden lang ein Tempo von 20,6 km/h läuft – ein Tempo, das die meisten von uns keine 100 Meter durchhalten –, sind so unvorstellbar, dass kein Körper, sei er noch so gut trainiert, dies ohne heftigste Widersprüche hinnimmt. Diese existentiellen Hilferufe sind nur mit mächtiger mentaler Kraft auszuhalten und zu vertrösten. Und dabei ist der Glaube an einen Gott, der seine Freude an dieser unbedingten Zielgerichtetheit und an dieser eindrucksvollen Demonstration seiner Schöpfung hat, so hilfreich wie keine andere psychologische Methode. Erst recht der Glaube an einen christlichen Gott, der selber das größte Leiden durchlebt und überstanden hat.
Schon für Paulus waren die Läufer im Stadion, auch wenn damals die längste Strecke nur fünf Kilometer zählte, Vorbilder für die Christus-Nachfolge:
»Wisst ihr nicht, dass in der Kampfbahn alle laufen, aber nur einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.« (1. Korinther 9, 24f.)
Ist es Zufall, dass die gesamte Weltelite der Marathonläufer Gläubige sind? Für mich nicht. Makaus herausragende Leistung und seine große Geste nach dem Zieleinlauf waren für mich die
eindrucksvollsten religiösen Zeichen in der letzten Woche. Dem Papstbesuch zum Trotz.
Das auserwählte Volk
20. September 2011
Hamburg-Othmarschen
Lockerer Dauerlauf
12 km, 1:05 h
Es war einmal ein Volk, mit dem schloss Gott einen Bund: Er sicherte ihm Schutz, fruchtbares Land und eine Vorzugsbehandlung unter allen anderen Völkern zu, knüpfte dies allerdings an eine Bedingung: Das Volk sollte im Gegenzug seine Gebote halten.
Diese Gebote waren das eigentlich Besondere an dem Bund. Denn solche sozialen und menschenfreundlichen Gebote kannte man bislang in der Menschheitsgeschichte nicht. Sie räumten den Armen großzügige Rechte ein – regelmäßiger Schuldenerlass, Straffreiheit von Mundraub, Aufwertung von Sklaven zu Lohnarbeitern –, schützten Fremde, Flüchtlinge und Asylsuchende, sicherten die wirtschaftliche Existenz von Frauen ohne erwerbstätige Männer und stellten erstmals Regeln für einen gerechten Krieg auf, die Jahrtausende später Vorbild für die Genfer Konventionen werden sollten.
Wahrlich, ein privilegiertes Volk, über dessen Humanität und Modernität andere nur staunen können, wie es ihr erster Prophet mit dem Namen Mose voraussah:
"Sieh, ich hab euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der HERR, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass, wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!" (Dtn 4,5f.)
Was hätte dieser Mose wohl von einem Nachfolger gedacht, der für unschuldige Opfer eines Militärangriffs nicht um Vergebung bittet, der friedliche Demonstranten für mehr soziale Gerechtigkeit in seinem Land auflaufen lässt, der die illegale Landnahme außerhalb der international anerkannten Grenzen nicht stoppt, und der eine Chance nach der anderen verpasst, mit dem gemäßigteren Teil seiner Feinde Frieden zu schließen versuchen und so seine Gegner zu entzweien?
Halt, Mose, bevor Du Deinen Stab über ihn brichst: Gib Bibi eine letzte Chance! Er will vor der UN-Vollversammlung am Freitag den Präsidenten des Volks treffen, auf dessen Versöhnung mit Israel die ganze Welt hofft. Gib ihm Deinen Segen!
Dr. Joseph Jekyll und
Papst Hyde XVI.
13. September 2011
Hamburg-Othmarschen
Ruhiger Dauerlauf
14 km, 1:10 h
Sollte mich jemand mal nach einem guten einführenden Buch über Jesus von Nazaret fragen, würde ich ihm neben der Bibel vor allem eins empfehlen: die 2007 erschienene Monografie »Jesus von Nazareth: Erster Teil. Von
der Taufe im Jordan bis zur Verklärung« von Joseph Ratzinger. Ich kenne kaum ein anderes Werk, das so tiefsinnig und leicht verständlich, so liebevoll und theologisch, so bescheiden und überzeugend
zugleich das Wirken des Gottessohns darstellt. Klar, einige Wertungen Ratzingers sind umstritten – aber der Autor erhebt keinen Unfehlbarkeitsanspruch, er wirbt argumentativ für seine Thesen und
zollt anderen Meinungen Respekt. Unübertroffen finde ich vor allem Ratzingers Interpretation von Jesu Versuchungen in der Wüste, seine Erklärungen zum zentralen biblischen Begriff der »Sanftmut« und
zum Herrengebet.
Das Bild, das ich beim Lesen dieses Buches – aber auch des zweiten Jesus-Bandes und der beiden Interviewbücher mit Peter Seewald – von Joseph Ratzinger gewonnen habe, passt überhaupt nicht mit dem überein, was seit seinem Amtsantritt 2005 über das Wirken Benedikt XVI. berichtet
wird. Immer noch fassungslos macht mich die Erinnerung an seine unsensible Regensburger Rede von 2006, die viele Muslime verletzte, die Aufnahme der Juden-Fürbitte 2007 in die Karfreitagsliturgie,
mit denen er es sich mit großen Teilen einer weiteren Weltreligion verscherzte, seine Rehabilitierung der Pius-Brüder 2009 – von den dogmatischen Haltungen zur Frauenordination, zu homosexuellen
Lebensgemeinschaften und zum Status der Ehe ganz zu schweigen, die mit meinem Verständnis von Christentum unvereinbar sind. Warum dürfen Geschiedene nicht zum Abendmahl, das Jesus ganz gezielt als
eine grenzenlose Gemeinschaft pflegte und von dem er noch nicht mal seinen Verräter ausschloss? Warum sind Frauen von Weiheämtern ausgeschlossen, wo doch Jesus' Anhängerschaft zu einem wesentlichen
Teil weiblich war?
Ach, es gibt so viele Fragen, die man aber – um ein Bild aus dem neuen Buch »Unter Ketzern« von Arnd
Brummer zu benutzen – nicht von einem unverrückbaren Leuchtturm beantwortet haben möchte, sondern von jemandem, der im gleichen Boot der Vernunft auf einem auf genauso wackeligem Grund steht.
Für Joseph Ratzinger würde ich in der nächsten Woche nach Berlin, Erfurt und Freiburg pilgern. Für den Papst reicht mir die
Tagesschau.
Liturgie des Laufens
7. September 2011
Hamburg, Außenalster
Jog-Walk-Mix
7 km, 1 h
Normalerweise habe ich mit Menschen zu tun, die gerne laufen und denen ich zeigen möchte, wie sie über das Laufen spirituelle Erlebnisse machen können. Bei dem Kurs »Liturgie des Laufens«, den ich zusammen mit Pastor Rolf-Dieter Seemann an der Hamburger Hauptkriche St. Petri
gebe, ist das andersherum: Die meisten Teilnehmer wollen das Laufen lernen – und ihre Spiritualität hilft ihnen dabei. Unser Ziel ist es, nach spätestens sieben Kursmeetings mit allen Laufanfängern
einmal die sieben Kilometer um die Außenalster zu schaffen.
Schon der erste Versuch in der vergangenen Woche war eine begeisternde Erfahrung. 25 Teilnehmer, von der 20-jährigen Studentin bis zum 70-jährigen Rentner, starten mit dem biblischen Impuls aus
Jesaja 40, 29-31:
»Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.
Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen;
aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.«
Das Wort wird Wahrheit: Etliche umrunden erstmals die Alster, was sie sich zuvor niemals zugetraut hätten, andere sind kurz davor. Das letzte Grüppchen, streng im Wechsel von drei Minuten Laufen,
einer Minute Gehen unterwegs, hat nach 30 Minuten immerhin 3,3 Kilometer erreicht – wir kehren aber vorsichtshalber um, damit wir insgesamt nicht länger als eine Stunde unterwegs sind. Am Schluss
haben alle ihre eigenen Erwartungen übertroffen. Pastor Seemann erklärt in einer beispielhaften Synthese aus theologischer Bibelauslegung und psychologischer Motivationslehre, wie er mit dem
Jesaja-Wort umgegangen ist:
»Ich bin an den beiden Worten ›müde‹ und ›Kraft‹ hängen geblieben. In ›müde‹ habe ich den ganzen Schmerz meines linken Knies gelegt, beim nächsten Schritt mit dem rechten Fuß habe ich mir ›Kraft‹
zugesprochen. Immer wieder ›müde‹ – ›Kraft‹, ›müde‹ – ›Kraft‹. Am Schluss blieb nur noch ›ü‹ – ›a‹.«
Heute ist das Grüppchen kleiner, der Wetterbericht hatte heftige Gewitter versprochen. Doch wir schauen in einen überwiegend blauen Himmel. Dafür ist der NDR mit einem Kamerateam gekommen, das
Hamburg-Journal auf N3 will am Freitag (9. September), um 19:30 Uhr einen Beitrag über unseren Kurs senden. Diesmal nehmen wir Psalm 18, 31-33 mit auf den Weg:
»Gottes Wege sind vollkommen, die Worte des Herrn sind durchläutert. Er ist ein Schild allen, die ihm vertrauen. … Gott rüstet mich mit Kraft und macht meine Wege ohne Tadel.«
Ohne Tadel ist auch unser Resumee nach einer Stunde. Wieder hat es ein Teilnehmer erstmals ganz um die Alster geschafft, und die Anfängergruppe ist wieder ein Stückchen weiter gekommen, sogar mit
weniger Anstrengung als vergangenene Woche. Schade nur, dass die am meisten begeisterte Frau vom letzten Mal fehlt. Sie hatte sich bei mir persönlich abgemeldet: »Ich habe mich nach dem Lauf so gut
gefühlt wie noch nie. Aber jetzt hat mein Arzt, der meine Leukämie behandelt, mir vom Laufen abgeraten.«
Welchen Eid hat dieser Arzt nur geschworen?
10 Jahre 9/11
1. September 2011
Hamburg-Elbufer
Ruhiger Dauerlauf
12 km, 1:05 h
Ich erinnere mich noch genau daran, womit ich mich am frühen Nachmittag des 11. September 2001 beschäftigt habe. Ich holte gerade mein Auto von einer sündhaft teuren Handwäsche ab. Der Lack
blitzte wie neu, das Leder im Innenraum glänzte und duftete, als im Radio die erste Meldung kam, dass ein Flugzeug ins World Trade Center gestürzt sei. Wenige Stunden später, als das ganze Ausmaß des
Anschlags abzusehen war, wurde mir klar, dass heute ein Zeitalter der hedonistischen Dekadenz zu Ende gegangen ist. Für mich persönlich, aber wohl auch für viele andere. In den zehn Jahren zwischen
1991 – dem Jahr der deutschen Einheit und dem ersten Golfkrieg – und jenem verhängnisvollen November 2001 hatten wir es uns bequem gemacht. Wir genossen unsere Aktiengewinne, schüttelten den Kopf
über die Praktikantin und den Präsidenten, die das Oval Office zum Oral Office machten, und lachten über unseren Kanzler, der sich nicht zu schade für einen Auftritt bei »Wetten dass« war, und wir
lachten noch lauter über einen Parteivorsitzenden, der sich bei seinem Liebesglück in einem mallorquinischen Pool fotografieren ließ.
Doch auf einmal war es vorbei mit der Witzigkeit. Die Kombination aus 9 und 11 stand nun nicht mehr für eine Sportwagenikone, sondern für einen geradezu übermenschlich raffiniert geplanten
Terroranschlag, wie er wohl nur von Extremisten ausgeführt werden kann, die Gott auf ihrer Seite wähnen. Den Opfern von New York folgten viele weitere in den sich anschließenden beiden Kriegen. Das
Leid, das die Attentäter und die auf sie reagierenden Politiker über die Welt brachten, rechtfertigt es wohl, von einem ersten Weltkrieg des 21. Jahrhunderts zu reden.
Nochmals zehn Jahre später. Wie stehen wir heute da? In den islamischen dominierten Ländern gewinnen auf breiter Front demokratische Bewegungen an Einfluss und Macht. Al-Qaida ist vielleicht noch
nicht so historisch wie die RAF, aber auf bestem Weg dorthin. Der Dialog zwischen Christen und Moslems ist ernsthafter, an dem anderen interessierter und weniger polemisch geworden. In den USA hat es
ein farbiger Präsident an die Macht geschafft, und im Kampf gegen die ewig Gestrigen in seinem Land steht er inzwischen auch wieder besser da. Die Finanzkrise hat das scheinbar unerschütterliche
Vertrauen in die angeblichen Selbstregulierungskräfte des Marktes zerstört, soziale Probleme gewinnen zunehmend Raum in der öffentlichen Diskussion. Und der letzte Repräsentant der Spaßgesellschaft
aus den 90er Jahren wird gerade aus dem Kabinett gemobbt.
Sollten wir tatsächlich gelernt haben in den letzten zehn Jahren?